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Kiffer mit Angststörung

September 2012

Nicht jeder Dauerkiffer ist ein Fall für den Psychiater. Studien weisen aber darauf hin, dass ein vergleichsweise hoher Anteil an Cannabiskonsumierenden unter Angststörungen leidet. Doch was unterscheidet Kiffer mit einer Angststörung von nicht-ängstlichen Konsumentinnen und Konsumenten? Und ist die Angst eher Ursache oder Folge des Konsums?

Frau schaut mit weit aufgerissenen Augen durch die Lamellen einer Jalousie

Bild: RapidEye / istockphoto.com

Angst ist eine natürliche, mitunter sogar lebensrettende Reaktion auf eine bedrohliche Situation. Reagieren Menschen aber unangemessen oder dauerhaft ängstlich auf Dinge, die andere Menschen nicht oder kaum bedrohlich empfinden, so spricht man von einer Angststörung oder Phobie. Diese kann zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag der Betroffenen führen. Beispielsweise meiden Menschen mit Agoraphobie - umgangssprachlich auch als „Platzangst“ bekannt -Menschenansammlungen in Warteschlangen, Bussen oder öffentlichen Plätzen. Im schlimmsten Falle verlassen sie kaum noch die eigene Wohnung.

Angst vor anderen Menschen

Was haben Angststörungen nun mit Cannabiskonsum zu tun? Die Forschung gibt Hinweise darauf, dass der Cannabiskonsum stärker verbreitet ist unter ängstlichen Menschen. Einer Studie aus den USA zufolge entwickeln 29 Prozent aller Personen, die an sozialer Phobie leiden, einen problematischen Cannabiskonsum. In der US-amerikanischen Allgemeinbevölkerung trifft problematischer Cannabiskonsum hingegen nur auf 4,2 Prozent zu.

Menschen, die unter sozialer Phobie leiden, meiden Situationen, in denen sie vor anderen sprechen oder an geselligen Veranstaltungen teilnehmen müssen. Allein schon die Erwartungshaltung vor sozialen Situationen kann Angst auslösen. Denn die soziale Phobie ist genau genommen die Angst vor möglichen kritischen Reaktionen anderer Personen, weil sie befürchten, sich ungeschickt oder peinlich zu benehmen. Die Angst kann sich in derartigen Situationen bis zu einer Panikattacke steigern.

Die soziale Phobie tritt meist im Jugendalter erstmals auf. In gewissem Maße ist Angst auch Teil der normalen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Bei einem Teil der Jugendlichen verursachen soziale Ängste jedoch extreme Belastungen.

Ursache oder Folge?

Angesichts der offenkundig erhöhten Verbreitung von Cannabiskonsum bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit sozialer Phobie stellt sich die Frage, ob die Angst vor sozialen Situationen womöglich eine Ursache für das Kiffen ist. Cannabis hat ja auch eine entspannende Wirkung. Denkbar ist zudem, dass Ängste erst durch den Cannabiskonsum entstehen. So ist schließlich bekannt, dass es bei Konsumierenden im Rausch zu Panikattacken kommen kann. Dann wäre die Angst eher Folge des Kiffens.

Julia Buckner von der Florida State University in den USA hat mit ihrem Forschungsteam eine Reihe an Studien zur sozialen Phobie bei Cannabiskonsumierenden durchgeführt. Besonders hervorzuheben ist eine Längsschnittstudie, die sich über einen Zeitraum von 14 Jahren erstreckte. 816 Schülerinnen und Schüler nahmen daran teil. Bei der ersten Untersuchung waren sie im Schnitt 16,6 Jahre und zum Zeitpunkt der letzten Nachuntersuchung durchschnittlich 30 Jahre alt.

Die Ergebnisse weisen eindeutig darauf hin, dass sich problematischer Cannabiskonsum in der zeitlichen Abfolge erst nach den ersten Anzeichen der sozialen Phobie entwickelt und signifikant damit zusammenhängt. Soziale Ängstlichkeit ist demnach ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entwicklung problematischen Cannabiskonsums.

Kiffen als Bewältigungsverhalten

Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen der sozialen Phobie und problematischem Cannabiskonsum erklären? Buckner und ihr Team erläutern, dass bei sozial ängstlichen Personen die Motivation für das Kiffen stärker dadurch geprägt ist, unangenehme Gefühle zu „bewältigen“. Ein ähnliches Ergebnis erzielte eine Forschungsgruppe um Studienleiter Michael Zvolensky. Demnach funktionalisieren vor allem starke Kiffer ihren Konsum zur Bewältigung von Angstsymptomen.

Der aus dem englischen stammende Fachbegriff „Coping“ beschreibt dieses Verhalten, das auch vom Alkoholtrinken her bekannt ist. Ängstliche Personen benutzen die entspannende Wirkung einer Droge, um ihre Angst vor sozialen Situationen zu mildern. Dies könne jedoch wiederum zur Folge haben, dass sie soziale Situationen meiden, aus Angst, sie könnten sich im berauschten Zustand nicht angemessen verhalten. Denn die Angst vor der Kritik anderer Personen ist schließlich Ausdruck der Sozialphobie.

Self-Handicapping-Theorie

Um Hinweis darauf zu bekommen, wann genau sozial ängstliche Kiffer auf den Joint zurückgreifen, hat Julia Buckner in einer weiteren Studie regelmäßig kiffende Studierende mit kleinen tragbaren Computern ausgestattet. Darin sollten die Teilnehmenden über einen Zeitraum von zwei Wochen mehrmals täglich ihr aktuelles Verlangen nach Cannabis, ihren tatsächlichen Konsum und das Ausmaß ihrer Ängstlichkeit zum jeweiligen Zeitpunkt festhalten.

Die Ergebnisse zeigen, dass Kiffer mit sozialer Phobie häufiger dem Verlangen nach Cannabis nachgeben, als die übrigen Testpersonen. Besonders häufig griffen sie in Situationen zum Joint, in denen sie sich ängstlich fühlten und auch andere kiffende Personen anwesend waren. Waren sie hingegen mit Personen zusammen, die nicht kifften, nahm die Wahrscheinlichkeit des Cannabiskonsums mit zunehmender Ängstlichkeit sogar ab.

Bruckner und ihre Kollegen vermuten, dass sozial ängstliche Kiffer Stress schlechter aushalten und sie dementsprechend auch schneller nachgeben, wenn das Verlangen nach Cannabis Stress auslöst. Hierfür nennt das Forschungsteam die so genannte Self-handicapping-Theorie als möglichen Erklärungsansatz. Demzufolge erwarten sozial ängstliche Menschen, dass sich der Cannabiskonsum negativ auf ihr Verhalten auswirkt und sie davon ausgehen, dass andere Menschen ihr Verhalten als Folge des Cannabiskonsums interpretieren und es nicht als Eigenschaft der Person betrachten. In anderen Worten: Die Angst, sich vor anderen lächerlich zu machen, wird dadurch besänftigt, dass sie sich tatsächlich und offensichtlich nicht normal verhalten, anderen aber signalisieren können, dass es auf die Cannabiswirkung zurückzuführen ist und nicht auf sie als Person.

„Aufschieberitis“ stärker ausgeprägt

Kiffen, um mit der Angst klar zu kommen, ist jedoch kein sonderlich wirkungsvolles „Bewältigungsverhalten“. Vielmehr schafft es neue Probleme wie eine weitere Studie aus den USA deutlich macht. der Der US-Wissenschaftler Nicholas Van Dam und sein Forschungsteam haben über 10.000 Cannabiskonsumierende via Internet befragt, um das Phänomen näher zu untersuchen. Nach Datenbereinigung gingen schließen die Angaben von 2.567 Konsumentinnen und Konsumenten in die Analyse ein. 275 von ihnen, das sind rund 11 Prozent, litten den Ergebnissen zufolge unter einer klinisch bedeutsamen Angststörung, also irgendeiner Form von Phobie. Zum Vergleich wurden weitere 275 Cannabiskonsumierende ohne Angststörung aus der Stichprobe ausgewählt, die sich hinsichtlich Alter, Geschlecht und Bildung nicht von den Kiffern mit Angststörung unterschieden.

Zum einen machte die Gegenüberstellung beider Gruppen erneut deutlich, dass Angst in hohem Maße mit dem Ausmaß des Cannabiskonsums zusammenhängt. Ängstliche Kiffer konsumierten signifikant mehr Cannabis pro Woche als nicht-ängstliche. Zum anderen berichteten die ängstlichen Kiffer häufiger von Problemen, die aus dem Cannabiskonsum resultieren. Am stärksten war der Zusammenhang bei der sogenannten Prokrastination. Bei dem umgangssprachlich auch „Aufschieberitis“ genanntem Problem werden wichtige Aufgaben oft nicht erledigt oder „auf die lange Bank geschoben“.

Cannabiskonsumierende mit Angststörungen litten zudem häufiger unter Gedächtnis- und Schlafproblemen sowie unter mangelnder Energie. Sie hatten öfter finanzielle Schwierigkeiten und fühlten sich weniger produktiv. Zudem hatten sie häufiger als andere Kiffer ein schlechtes Gewissen wegen ihres Konsums.

Fazit

Personen, die unter sozialen Ängsten leiden und Cannabis konsumieren, sind besonders gefährdet, einen problematischen Konsum bis hin zur Abhängigkeit zu entwickeln. Die Studienergebnisse der Forschungsgruppe um Julia Buckner zeigen einen weiteren Aspekt auf, der insbesondere für jene Personen von Bedeutung ist, die ihren Cannabiskonsum reduzieren wollen: Wenn das Kiffen (auch) dadurch motiviert ist, Angstsymptome zu mildern, könnten genau diese zutage treten, sollte der Konsum eingeschränkt oder eingestellt werden.

Wird der Cannabiskonsum zur „Selbst-Behandlung“ der Ängste aufrechterhalten, können sich allerdings Folgeprobleme verstärken. Wirkungsvoller ist es, den Cannabiskonsum zu reduzieren oder einzustellen und gleichzeitig alternative Coping-Strategien gegen soziale Ängste zu entwickeln. Hierfür ist es allerdings empfehlenswert, die fachkundige Unterstützung im Rahmen einer Beratung oder einer Therapie in Anspruch zu nehmen.

Quellen:

  • Bonn-Miller, M. O., Zvolensky, M. J., Bernstein, A. & Stickle, T. R. (2008). Marijuana coping motives interact with marijuana use frequency to predict anxious arousal, panic related catastrophic thinking, and worry among current marijuana users. Depression and Anxiety, 25, 862-873.
  • Buckner, D., J. & Schmidt N., B. (2009). Social anxiety disorder and marijuana use problems: The Mediating Role of Marijuana Effect Expectancies. Depression and Anxiety, 26, 864-870.
  • Buckner, J. D., Bonn-Miller, M. O., Zvolensky, M. J. & Schmidt, N. B. (2007). Marijuana Use Motives and Social Anxiety among Marijuana Using Young Adults. Addict Behav, 32, 2238-2252.
  • Buckner, J. D., Schmidt, N. B., Lang, A. R., Small, J. W., Schlauch, R. C. & Lewinsohn, P. M. (2008). Specificity of Social Anxiety Disorder as a Risk Factor for Alcohol and Cannabis Dependence. J Psychiatr. Res, 42, 230-239.
  • Buckner, J., Crosby, R., Wonderlich, S. & Schmidt, N. (2012). Social anxiety and cannabis use: An analysis from ecological momentary assessment. Journal of Anxiety Disorders, 26, 297-304.
  • Butcher, J., Mineka, S. & Hooley, J. (2009). Klinische Psychologie. München: Pearson Studium.
  • Essau, C. (2003). Angst bei Kindern und Jugendlichen. München: Ernst Reinhardt.
  • Van Dam, N., Bedi, G. & Earlywine, M. (2012). Characteristics of clinically anxious versus non-anxious regular, heavy marijuana users. Addictive Behaviors, 37 (11), 1217-1223.

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