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Nebenwirkung Abhängigkeit

März 2010

Sie wirken anregend oder beruhigend, mildern Depressionen und lösen Ängste in Wohlgefallen auf. Psychopharmaka sind Medikamente, die unser Befinden verbessern sollen und zur Linderung psychischer Krankheiten eingesetzt werden. Wirklich nur bei Krankheit? Angesichts von jährlich etwa 40 Millionen verkaufter Packungen an Schlaf- und Beruhigungsmitteln kommen Zweifel auf. Tatsächlich besitzen die meisten dieser rezeptpflichtigen Mittel ein mehr oder weniger ausgeprägtes Abhängigkeitspotential. Expertinnen und Experten schätzen, dass zwischen 1,4 und 1,9 Millionen Menschen in Deutschland abhängig sind von Medikamenten. Lange Zeit war unklar, was genau im Gehirn passiert. Eine Forschungsgruppe aus der Schweiz ist es nun gelungen, den molekularen Mechanismus zu entschlüsseln.

Von Medikamentenmissbrauch spricht man, wenn Medikamente außerhalb der medizinischen Verschreibung, in höherer Dosierung als vorgesehen oder länger als notwendig eingenommen werden. Schlaftabletten, Schmerz- und Beruhigungsmittel behandeln jedoch nicht die Ursachen, sie lindern nur die Symptome. Doch der positive Effekt auf das Befinden kann einschneidend sein, mitunter sogar einer Erlösung gleich kommen. Das Leben scheint leichter zu sein. In dieser „Alltagstauglichkeit“ liegt die Gefahr einer allmählichen Gewöhnung, die zu einer Abhängigkeit führen kann.

Um sich die Dimension des Problems vor Augen zu führen, hilft es, einen Blick beispielsweise auf das Thema Cannabis zu werfen. Hier liegt der Gedanke an eine mögliche Abhängigkeitsentwicklung vermutlich näher als bei Medikamenten. Etwa 9,2 Millionen Deutsche haben schon mal Cannabis konsumiert, und bei immerhin 240.000 liegt eine Cannabisabhängigkeit vor. Das Phänomen der Medikamentenabhängigkeit übersteigt die Zahl der problematischen Kiffer allerdings um ein Vielfaches: Bis zu 1,9 Millionen Menschen sind abhängig von Medikamenten. Doch die Abhängigkeit von Medikamenten verläuft unauffälliger als die von illegalen Drogen und ist im Alltag oft kaum wahrnehmbar, zumal es sich in der Regel um Mittel handelt, die ärztlich verschrieben werden.

Frauen besonders betroffen

Festzuhalten ist aber auch, dass nicht jeder Mensch, der Schlaf- und Beruhigungsmittel verschrieben bekommt, abhängig wird. Warum manche Personen die Mittel wieder absetzen, andere aber mehr nehmen als ihnen gut tut, lässt sich nicht einfach beantworten. Das Phänomen Medikamentenabhängigkeit ist nicht auf einzelne Ursachen zurückführen, sondern unterliegt einem Geflecht aus individuellen und sozialen Faktoren. Bekannt ist, dass der Abhängigkeitsentwicklung in der Regel psychische Probleme vorausgehen. Frauen scheinen davon stärker betroffen zu sein. 70 Prozent aller Medikamentenabhängigen sind weiblich. Zudem steigt das Risiko einer Medikamentenabhängigkeit mit dem Alter.

Für die besondere Betroffenheit von Frauen kommen unterschiedliche Gründe in Betracht: Frauen leiden häufiger unter Depressionen, Angststörungen und chronischen Schmerzen. Während Frauen bei bestehenden psychischen Belastungen eher zur Medikamenteneinnahme neigen als Männer, greifen diese umso häufiger zum Alkohol. Dieser Unterschied lässt sich unter anderem durch die gesellschaftlich vermittelten Geschlechterrollen erklären.

Fließender Übergang

Der Übergang vom bestimmungsgemäßen Gebrauch zum Missbrauch ist oft fließend, was es so schwer macht, den Anfang einer Abhängigkeitsentwicklung zu erkennen. Vier bis fünf Prozent der häufig verordneten Arzneimittel besitzen ein eigenes Abhängigkeitspotential. Am häufigsten missbraucht werden Medikamente aus der Gruppe der Benzodiazepine, die den Beruhigungsmitteln (auch Tranquilizer genannt) zugeordnet werden. Ein bekannter Vertreter dieser Psychopharmaka ist Valium, mit dem Wirkstoff Diazepam. Diazepam hat vor allem eine angstlindernde und beruhigende Wirkung. Bedrohliches wandelt sich in eine leicht verkraftbare Unwichtigkeit, Unruhe verschwindet, Furcht zerrinnt. Psychische Tiefen gibt es nicht mehr, Höhen allerdings auch nicht.

Molekularer Mechanismus der Benzodiazepinwirkung

Obwohl die Missbrauchsgefahr der Benzodiazepine bekannt ist, war bisher unklar, welche biologischen Mechanismen der Abhängigkeit zugrunde liegen. Einem Schweizer Forschungsteam ist nun der Nachweis gelungen, dass Benzodiazepine - genau wie Heroin, Haschisch und andere Drogen - gezielt die Aktivität derjenigen Nervenzellen herunterschrauben, die normalerweise das Belohnungssystem im Mittelhirn im Zaum halten. Wenn das entfesselte Belohnungssystem keiner Kontrolle mehr untersteht, kommt es zum Kontrollverlust und dem typischen zwanghaften Verhalten, das eine Abhängigkeit definiert. Christian Lüscher und sein Team veröffentlichten ihre Ergebnisse kürzlich in der Fachzeitschrift Nature.

Die Entschlüsselung des molekularen Mechanismus erfolgte am Mäusehirn. Sie verabreichten normalen Mäusen Benzodiazepine, woraufhin sich deren Hirnfunktionen veränderten und schließlich zu einer verstärkten Aktivität des Belohnungssystems führten. Dies wurde auch im Verhalten der Nager sichtbar. So entwickelten sie schon nach wenigen Tagen eine Vorliebe für in Zuckerwasser gelöste Benzodiazepine, auch wenn sie die Möglichkeit hatten, nur Zuckerwasser zu trinken. Mäuse, die aufgrund einer Mutation keine Benzodiazepine binden konnten, verloren weder die Kontrolle über ihr Belohnungssystem im Hirn, noch legten sie ein abhängiges Verhalten an den Tag.

Das Forschungsteam fand heraus, dass Benzodiazepine an bestimmten Eiweißen, den so genannten GABA-Rezeptoren, andocken. Diese sind - je nach Nervenzelle, auf deren Oberfläche sie sich befinden - aus unterschiedlichen Untereinheiten zusammengesetzt und vermitteln verschiedene Funktionen. Weil die meisten der auf dem Markt erhältlichen Benzodiazepine sich an alle Untereinheiten binden, wirken sie sich vielfältig aus: Sie heben Angstzustände auf, lösen epileptische Muskelkrämpfe und fördern den Schlaf - können aber auch abhängig machen.

Lüscher und sein Team konnten nachweisen, dass die abhängig machende Wirkung von Benzodiazepinen vor allem von einer Untereinheit der GABA-Rezeptoren abhängig ist, die als alpha 1 bezeichnet wird. Weil die angstlösende Wirkung der Benzodiazepine aber hauptsächlich von der Untereinheit alpha 2 vermittelt wird, sei es prinzipiell möglich, angstlösende Wirkstoffe zu entwickeln, die nicht abhängig machen. Solche selektiv wirksamen Substanzen, die nur mit einzelnen Untereinheiten binden, seien zwar vorhanden, aber bislang nicht auf ihre Wirksamkeit hin untersucht worden. „Dies erachte ich jedoch als dringlich“, sagt Lüscher, „vor allem weil von Ängsten geplagte Menschen besonders suchtgefährdet sind.“

Es geht auch anders

Um einer Abhängigkeit vorzubeugen, sollte ein regelmäßiger Gebrauch von Medikamenten gegen Befindlichkeitsstörungen immer zum Anlass genommen werden, sich auf die Suche nach echten und auf Dauer befriedigenden Lösungen zu machen. Patentrezepte gibt es nicht, doch die Auseinandersetzung mit individuellen Belastungen und Lebensumständen kann Beschwerden verständlich machen. Neben der Abklärung möglicher körperlicher Ursachen, können auch die Veränderung des Lebensstils, beispielsweise durch eine andere Ernährung oder mehr Bewegung und Entspannung, ein Weg zu einem beschwerdefreien Leben sein. Hierzu ist es empfehlenswert, eine Suchtberatungsstelle vor Ort aufzusuchen.

Vorsicht beim Entzug!

Betroffene sollten Benzodiazepine nie ohne ärztliche Aufsicht absetzen. Es kann infolge des Entzuges zu Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen und sogar zu einer Entzugspsychose mit Krampfanfällen kommen. Selbst frei verkäufliche Medikamente, wie zum Beispiel Kopfschmerzmittel, können bei regelmäßiger Einnahme zu einer körperlichen Gewöhnung führen, die einen Entzug in einem Krankenhaus erforderlich machen.

 


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