Interview mit der Psychotherapeutin Birgit Spohr zum Thema "Abhängigkeit von Cannabis"

Drugcom: Im Interview begrüße ich heute Birgit Spohr, Psychologin und Psychotherapeutin mit langjähriger Erfahrung in der Behandlung von Cannabisabhängigen. Frau Spohr ist seit 1992 im Therapieladen in Berlin tätig, in dem Cannabiskonsumenten behandelt werden, denen das Kiffen über den Kopf gestiegen ist. Sie ist seit 2008 auch Beraterin im drugcom-Programm „Quit the shit“. Sie wird uns heute erklären, wie es aus ihrer Sicht zu einer Cannabisabhängigkeit kommen kann und wie man wieder davon wegkommt. Zunächst jedoch ein paar Zahlen zur Verbreitung von Cannabisabhängigkeit. Denn bei dem Begriff „Abhängigkeit“ denkt sich der eine oder die andere möglicherweise: „Gibt es das überhaupt? Abhängigkeit von Cannabis?“ Es wird geschätzt, dass etwa 9 Millionen Menschen in Deutschland schon mal gekifft haben. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass bis zu 740.000 der zumeist Jugendlichen oder jungen Erwachsenen eine so genannte cannabisbezogene Störung aufgrund ihres Konsums entwickeln. Es handelt sich dabei um entweder gesundheitliche, psychische, soziale oder auch rechtliche Probleme. Und bei etwa 240.000 von ihnen entwickelt sich schließlich eine Cannabisabhängigkeit. Wir wissen also, dass nicht jeder, der kifft, auch ein Problem damit bekommt, ein kleiner Teil aber schon. Birgit, wann wird aus dem scheinbar harmlosen Gelegenheitskiffen ein problematischer Konsum? Vielleicht kannst du dabei auch aus deiner praktischen Tätigkeit mit Klienten erzählen.

Birgit Spohr: Tatsächlich ist es so, dass die meisten mit einem gelegentlichen Konsum anfangen, mit Freunden aus Spaß, aus Neugier, Interesse und dass es meistens beschränkt ist auf vergnügliche Situationen, zum Chillen oder zum Filmegucken, zum Musikhören oder zum Ausgehen, es also an Spaß gekoppelt ist. Das nennen wir Genuss- oder Gelegenheitskonsum. Und erfahrungsgemäß ist es nicht so, dass Jugendliche oder junge Erwachsene von dieser Situation dann direkt in eine Abhängigkeit rutschen. Meist ist es eine längere Entwicklung. Manche merken dann in Situationen, in denen sie sich unwohl fühlen oder in denen sie Stress in der Schule, auf der Arbeit, mit den Eltern oder mit der Freundin haben, dass sie besser abschalten oder entspannen können, wenn sie einen Joint rauchen. Das ist natürlich ein schleichender Prozess. Es sagt ja niemand: „Jetzt benutze ich Cannabis, um schwierige Situationen zu lösen.“ Aber daraus beginnt aus unserer Erfahrung eine kritische Entwicklung, weil der Konsum nicht dazu dient, eine schöne Situation noch schöner zu machen, sondern dazu, eine schwierige Situation erträglicher zu machen. Das heißt, der Konsum bekommt eine Funktion. Diese Entwicklung können wir bei den Klienten hier im Therapieladen beobachten. Oft berichten die Klienten auch davon, dass in diesen Situationen noch Veränderungen der Lebensumstände hinzugekommen sind, die mit erhöhtem Stress einhergehen, wie ein Auszug von Zuhause oder der Beginn der Ausbildung. Es können aber auch eher „kleine“ Dinge sein, beispielsweise ein alter Freund, der länger weg war und zurückgekommen ist und mit dem dann wieder mehr gekifft wird. Der kritische Punkt wird aber dann erreicht, wenn angefangen wird, den Konsum zu funktionalisieren. Das müssen nicht immer die großen schwierigen Dinge sein. Es kann auch sein, dass man abends allein zu Hause ist und nicht recht etwas mit sich anzufangen weiß und dann kifft, um sich einen schönen Abend zu machen, um sich nicht so allein zu fühlen.

Drugcom: Das heißt also, der Konsum bekommt eine Funktion oder wird funktionalisiert. Hat nicht auch schon der Gelegenheitskonsum mit Freunden eine Funktion?

Birgit Spohr: Riskant wird der Konsum, wenn er eine Funktion in der Bewältigung des Alltags bekommt. Dann wird – bildhaft gesprochen – das Kiffen zur Krücke. Übertragen gesprochen, wird das Kiffen dann zur Krücke, wenn man es einsetzt, um den Stress zu bewältigen oder einfach abzuschalten. Und wenn man eine Krücke benutzt, werden die Muskeln schlaff. Das heißt, ich gewöhne mich daran, mit Krücke zu laufen. Wenn man dann nicht sehr wachsam ist und sich vor Augen führt, dass man zu oft kifft, um abzuschalten, um Stress zu bewältigen oder auch um mit Freunden Spaß zu haben, gewöhnt man sich daran, nur noch die Krücke zu benutzen. Und dann wird's kritisch. Das ist die klassische Entwicklung einer Abhängigkeit – weil es ohne nicht mehr geht im Alltag.

Drugcom: Der Konsum wird also in unangenehmen Situationen als Problemlöser benutzt. Ist das schon ein Kennzeichen einer Abhängigkeit?

Birgit Spohr: Das würde ich erstmal noch nicht Abhängigkeit nennen. Die Entwicklung vom Gelegenheitskonsum zur Abhängigkeit führt erfahrungsgemäß über eine Phase, die missbräuchlicher Konsum genannt wird. Was ich eben beschrieben habe, ist ein Kennzeichen des missbräuchlichen Konsums, es zu benutzen, um Schwierigkeiten zu bewältigen. Ein anderes Kriterium des missbräuchlichen Konsums wäre, in unangemessenen Situationen zu konsumieren, z. B. in der Schule oder auf der Arbeit, vor dem Autofahren oder während man krank ist. Wenn in solchen Situationen gekifft wird, ist es ein kritisches Signal. Ein weiteres Kriterium für missbräuchlichen Konsum ist gegeben, wenn jemand so viel kifft, dass er negative Auswirkungen in Kauf nimmt, z. B. wenn jemand am Abend vor einer wichtigen Klausur kifft. Dies alles würde ich noch als Missbrauch bezeichnen. Aber von dort ist die Schwelle, in die Abhängigkeit zu rutschen und festzustellen, ich kann gar nicht mehr ohne, nicht mehr sehr hoch.

Drugcom: Ein typisches Kennzeichen für den Weg in die Abhängigkeit wäre demnach, wenn jemand anfängt zu erkennen, dass er weniger konsumieren müsste, es aber nicht schafft.

Birgit Spohr: Das ist ein typisches Merkmal einer Abhängigkeit, dass Leute berichten: „Ich haben schon viele Versuche hinter mir, ich habe es aber nicht geschafft.“ Oder sie haben es für 4 oder 5 Wochen geschafft aufzuhören und dachten dann, sie hätten es im Griff. Als sie dann mal wieder einen Joint mitgeraucht haben, dauerte es wenige Tage bis Wochen bis sie wieder in ihrem alten Konsumverhalten waren.

Drugcom: Cannabisabhängigkeit wird ja meist begleitet von Problemen, die entweder schon vorher da waren oder sich in Folge der Abhängigkeit entwickelt haben. Gibt es eine bestimmte Sorte von Problemen, die Konsumierende sozusagen anfällig macht für missbräuchlichen Konsum? Mit was für Problemen kommen denn typischerweise die Klienten?

Birgit Spohr: Ich würde, wie du es gemacht hast, unterscheiden zwischen Problemen, die vor dem Konsum da waren, und solchen, die erst im Laufe des Konsums entstehen. Manchmal sind diese Probleme auch nicht mehr gut zu trennen. Risikogruppen sind Menschen, die viel Unruhe und Anspannung haben, Menschen mit Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität, Menschen, die nicht gut mit ihrem Ärger umgehen können und schnell aufbrausen. Durch den Cannabiskonsum fällt es ihnen dann leichter, sich zu entspannen oder auch besser mit ihrem Ärger umzugehen. Wir haben im Therapieladen Menschen mit sehr unterschiedlichen Vorgeschichten, z. B. auch Menschen mit depressiven Verstimmungen oder sehr schüchterne Menschen, die durch den Cannabiskonsum leichter Kontakte knüpfen können. Es kommen auch Menschen zu uns, deren Erkrankung durch den Konsum von Cannabis gelindert wird. Das Spektrum ist da sehr weit - von massiven Konflikten in der Familie bis hin zu körperlichen oder auch psychischen Erkrankungen. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung, dass das Kiffen ihre Situation leichter und erträglicher macht.

Drugcom: Hat der Gebrauch von bestimmten Rauchgeräten oder der Konsum von hochpotentem Cannabis eine Bedeutung für die Cannabisabhängigkeit oder sind das eher die Folgen des Missbrauchs?

Birgit Spohr: Auch da ist das Spektrum groß. Viele, die zu uns kommen, konsumieren nicht nur viel, sondern auch heftig. Sie rauchen Bong und 4 bis 6 Gramm Gras pro Tag, was sehr viel ist. Aber es gibt auch Klienten, die abends 1 bis 2 Joints rauchen, die sie dann aber auch wirklich brauchen, ohne die sie nicht wissen, wie sie den Abend rumkriegen oder einschlafen sollen. Es ist sicherlich so, dass ein so genanntes hartes Konsummuster mit einem höheren Abhängigkeitsrisiko verbunden ist, andererseits gibt es auch Abhängigkeit ohne hartes Konsummuster.

Drugcom: Beim Thema Schlafstörungen möchte ich noch mal nachhaken: Man spricht ja von Entzugserscheinungen beim Thema Abhängigkeit. Lange galt Cannabis nur als psychisch abhängig machend. Nun gibt es aber mehrere Forschungsarbeiten der letzten Jahre, die darauf hindeuten, dass es auch körperliche Entzugserscheinungen geben kann. Was berichten die Klienten, wenn sie mit dem Konsum aufhören?

Birgit Spohr: Schlafstörungen ist ein ganz wichtiges Stichwort. Das kennen fast alle Kiffer, die aufhören, dass sie die ersten 1 bis 3 Wochen Einschlafprobleme haben und dass sie sehr unruhig schlafen und wild und heftig träumen. Cannabiskonsum unterdrückt ja den Traumschlaf weitgehend, was auch dazu führt, dass der Schlaf wenig erholsam ist und man sich morgens nicht ausgeruht fühlt. Wenn die Schlafstörungen aber länger als 4-6 Wochen nach Beendigung des Konsums anhalten, muss man gucken, ob es nicht noch andere Gründe dafür gibt, z. B. eine depressive Symptomatik. Ein weiteres körperliches Entzugssymptom, das viele Klienten schildern, ist starkes Schwitzen in den ersten Tagen, da findet dann eine Entgiftung statt und es ist wichtig, viel zu trinken. Psychische Symptome sind Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen, allgemein das Gefühl, sich auf wackeligen Füßen zu fühlen.

Drugcom: Da kann ich mir gut vorstellen, dass der ein oder andere in der Situation doch in die Versuchung gerät, noch einmal einen Joint zu rauchen, um sich Erleichterung zu verschaffen.

Birgit Spohr: Absolut. Der Entzug ist zwar in der Schwere nicht vergleichbar mit dem Alkoholentzug, aber sicher nicht angenehm auszuhalten. Da weiß man, dass die Schwere des Entzugs abhängig ist von dem Ausmaß des Konsums vorher.

Drugcom: Also muss derjenige, der viel und intensiv gekifft hat, sich darauf einstellen, etwas länger unter dem Entzug zu leiden.

Birgit Spohr: Ja, und die ersten Tage werden auch unangenehmer sein. Natürlich ist die Versuchung groß, wieder zu kiffen. Aber wenn man das tut, verlängert es den Prozess natürlich.

Drugcom: Woran kann denn jemand erkennen, dass der Konsum etwas aus den Fugen geraten ist? Gibt es da frühe Anzeichen, die man bei sich selber feststellen kann?

Birgit Spohr: Wichtig sind die Punkte, die ich anfangs schon erwähnt hatte. Wenn das Kiffen eine Krücke im Alltag wird, wenn es häufig in Situationen genutzt wird, um diese angenehmer oder erträglicher zu machen.

Drugcom: Man müsste sich also selbstkritisch fragen, wann kiffe ich eigentlich, in welchen Situationen und was verspreche ich mir davon? Und wozu benutze ich es?

Birgit Spohr: Es könnte eine gute Unterstützung sein, ein kleines „Kiffprotokoll“ zu führen und sich hinzusetzen und aufzuschreiben, wie oft habe ich gekifft, was waren das für Situationen, was habe ich mir davon erhofft? Das ist gut, um sich mal einen Überblick zu verschaffen. Meine Erfahrung ist, dass Leute, die massiv kiffen, gar nicht mehr einen wirklichen Überblick darüber haben, wie viel und wie oft sie kiffen, da gehört es schon selbstverständlich zum Alltag. Ich möchte noch über die Auswirkungen des heftigen Konsums sprechen: Die Auswirkungen des Cannabiskonsums sind nicht so heftig wie bei anderen Drogen, und das führt dazu, dass Leute über lange Zeit kiffen und sagen: Mir geht's doch damit gut! Das stimmt erfahrungsgemäß nur zum Teil. Meine Erfahrung ist, dass viele Kiffer lange ein Leben auf kleiner Flamme führen, in dem einfach nicht mehr viel passiert. Cannabis ist eine Substanz, die „hilft“ schwierige Situationen lange erträglich zu machen. Und das ist eine Falle: Man bleibt lange in belastenden Situationen und wird nicht aktiv, sie zu verändern. Das ist das Heimtückische – aus meiner Sicht – an der Cannabisabhängigkeit. Daher ist es gut, sich mal hinzusetzen und zu schauen: Wie lebe ich im Moment? Ist es das, was ich mir vorgenommen hatte? Bin ich träge, habe ich zu nichts mehr Lust, tue ich vieles von dem nicht, was ich mir vorgenommen habe? Was ich immer wieder erlebe und bitter finde, ist, dass hier Leute mit Ende 30, Anfang 40 zu uns kommen und sagen: Eigentlich wusste ich schon mit 20, dass das mit dem Kiffen nicht gut für mich ist – und ich habe trotzdem weitergemacht und dadurch viel verpasst. Dieses Schleichende finde ich am Kiffen so gefährlich.

Drugcom: Das klingt so, als wäre das Leben mit Cannabis ein langer langsamer ruhiger Fluss, der aber eher so dahindröppelt.

Birgit Spohr: Ja, genau. Oft sagen dann andere: „Mensch, du hast dich so verändert in den letzten Jahren.“ Oder: „Du bist immer breit, wenn wir uns sehen. Da hab ich keine Lust drauf.“ Das sind wichtige Zeichen, die oft nicht so ernst genommen werden, es aber sollten.

Drugcom: Wohin kann ich mich wenden, wenn ich Hilfe brauche?

Birgit Spohr: Eine Möglichkeit ist immer, sich an die jeweils zuständige Drogenberatungsstelle zu wenden, da einen Termin zu vereinbaren und sich beraten zu lassen. Dann gibt es mittlerweile ein gutes Online-Angebot, man kann sich zum Beispiel im drugcom-Chat Unterstützung und Beratung holen. Viele versuchen auch, das Kiffen mit dem „Quit the shit“-Ausstiegsprogramm in den Griff zu kriegen, was sehr vielen auch gelingt, manchen aber nicht. Manche Klienten bei uns haben es zuerst mit „Quit the shit“ versucht, dann aber gemerkt, dass sie doch mehr Unterstützung benötigen.

Drugcom: Also ist es eine gute Möglichkeit, sich erst einmal anonym im Internet Beratung zu holen und zu gucken, ob man damit klarkommt oder mehr Hilfe braucht.

Birgit Spohr: Ja, genau.