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Juni 2015
Kiffen ist nicht gleich Kiffen. Wer damit anfängt, tut dies aus anderen Gründen, als derjenige, der täglich vor dem Einschlafen einen Joint raucht. Der Soziologe Howard Becker hatte in den 1950er Jahren eine bedeutende Arbeit dazu verfasst, welchen Entwicklungsprozess Menschen beim Cannabiskonsum durchlaufen, vom Einstieg bis zum regelmäßigen Konsum. Doch wie verläuft die „Kifferkarriere“ heutzutage. Ein dänisches Forschungsteam hat dies untersucht.
Bild: © istock.com / JimmyAnderson
Das Rauchen von Marihuana ist wie Austern-Essen oder Martinis-Trinken, schrieb Howard Becker im Jahre 1953. Die konsumierende Person müsse erst noch lernen, den Geschmack bzw. die Wirkung zu genießen. Das mag heute etwas seltsam klingen. Zu der Zeit, in der Becker seine Thesen formulierte, war Cannabiskonsum aber bei weitem nicht so verbreitet wie heute. Und in der Öffentlichkeit wie in der Fachwelt wurde der Konsum von Marihuana mehr oder weniger gleichgesetzt mit Abhängigkeit.
Howard Becker vertrat hingegen die These, dass Marihuana nicht zwangsläufig in eine Abhängigkeit führen würde. Vielmehr würden die meisten Konsumierenden einen kontrollierten Freizeitgebrauch betreiben, der nicht durch süchtiges Verlangen gekennzeichnet sei, wie man es von Alkohol oder Opiaten kenne. Becker hat seine Annahmen auf der Basis von 50 Interviews mit Cannabiskonsumierenden entwickelt. Die meisten Interviewten waren professionelle Livemusiker, aber auch Arbeiter, Ingenieure und Menschen aus akademischen Berufen.
Margaretha Järvinen und Signe Ravn haben Beckers Publikation „Wie man Marihuana-Benutzer wird“ zur Grundlage für eine Studie genommen, in der sie Beckers Thesen überprüft haben. Hierzu führten die Forscherinnen aus Dänemark 30 etwa einstündige Interviews mit Cannabiskonsumierenden. Im Schnitt waren die Befragten 22 Jahre alt. Anders als Becker haben Järvinen und Ravn jedoch gezielt nur solche Personen ausgesucht, die Hilfe in einer Drogenberatungsstelle gesucht haben. Die Möglichkeit, dass der Konsum außer Kontrolle gerät, hatte Howard Becker einst nicht berücksichtigt.
In Beckers Publikation spielen andere Personen beim Erlernen des Konsums und der Entwicklung hin zum regulär Konsumierenden eine zentrale Rolle. Diese Personen würden dem Einsteiger helfen, die richtige Rauchtechnik anzuwenden und die erlebten Wirkungen zu interpretieren. Die Aufrechterhaltung des Konsums mache es zudem erforderlich, sich in gewisser Weise vom Mainstream abzuwenden und Kontakt zu einem Netzwerk von Personen zu halten, die ebenfalls „abweichen“ von der Norm. Für Järvinen und Ravn stellte sich daher die Frage, ob der soziale Aspekt bei den heutigen Cannabiskonsumierenden eine ebensolche Rolle spielt.
Auf Grundlage der Gespräche mit Konsumierenden konnten die Forscherinnen Beckers über 60 Jahre alten Thesen zumindest in Teilen bestätigen und drei unterschiedliche Phasen bei der Entwicklung einer „Kifferkarriere“ unterscheiden: Die Phase des gelegentlichen Konsums, der sozial integrierte Konsum und der individualisierte, sozial nicht integrierte Konsum.
Beckers Theorie zufolge müsse der Konsumierende zunächst lernen, die erlebten Wirkungen richtig einzuordnen. Es könne sein, dass dem Benutzer schwindelig wird, seine Kopfhaut kitzelt und er Zeit und Entfernung verschätzt. „Ist das vergnüglich?“, fragt Becker rhetorisch. „Wenn er den Marihuana-Gebrauch fortsetzen will, muss er sich dafür entscheiden, dass es vergnüglich ist. Sonst wird das High-Sein für ihn eine zwar durchaus reale, aber unerfreuliche Erfahrung sein, die er lieber vermeiden möchte.“
Den Interviews zufolge, die Järvinen und Ravn geführt haben, scheint der Lernaspekt beim Einstieg in das Kiffen in der heutigen Zeit kaum noch ein Rolle zu spielen. Die meisten Befragten hätten oft beim ersten Mal die typische Wirkung gespürt und dabei auch keine Hilfe von erfahrenen Usern benötigt. Martin, 20 Jahre alt, schildert das erste Konsumerlebnis so: „Das erste Mal war fantastisch, es war zusammen mit einigen meiner besten Freunde. Wir saßen in der Küche, rauchten ein paar Joints und ich erinnere mich daran, dass ich richtig stoned war.“
Die Interviews haben zudem deutlich gemacht, dass der soziale Aspekt bei allen Befragten durchaus wichtig war, zumindest beim Einstieg und bei der Entwicklung hin zum regelmäßigen Konsum. Während das Marihuanarauchen in den 1950er Jahren in den USA gesellschaftlich noch geächtet war und sich Konsumierende mehr oder weniger automatisch in der Rolle von Abweichlern wiederfanden, ist die Situation heute eine andere. Der Besitz von Cannabis ist zwar in den meisten US-amerikanischen Bundesstaaten wie auch in Dänemark weiterhin illegal, doch der Konsum wird nicht mehr in der Weise als ein von der Norm abweichendes Verhalten wahrgenommen, wie noch vor 60 Jahren.
Dies spiegelt sich auch in den Interviews wieder, die Järvinen und Ravn durchgeführt haben. Der Einstieg in den Konsum wurde in der Regel nicht als eine Abkehr vom Mainstream wahrgenommen. Einige der Befragten hätten beispielsweise mit Schulfreunden zusammen angefangen und sind gemeinsam mit ihnen zum regelmäßigen Konsum übergegangen. Das Cannabisrauchen sei einfach eine weitere gemeinsame Aktivität gewesen, die hinzugekommen ist.
Allerdings gab es auch Befragte, die sich nicht so integriert fühlten wie ihre Schulkameraden und einen Freundeskreis außerhalb der Schule aufgebaut haben, wie beispielsweise Mikkel: „Die anderen spielten Tennis oder Fußball und deren Eltern kannten sich untereinander. Wir waren diejenigen, die die Nase voll hatten von der Schule, solche Dinge halt […] Und im Laufe eines Jahres oder so rauchte ich täglich [Cannabis].“ Es waren jedoch nur einige wenige, die sich als Außenseiter wahrnahmen und die das Kiffen mit Anderssein verbanden, so wie Howard Becker es in den 1950er Jahren beschrieben hatte.
Bei vielen der von Järvinen und Ravn Befragten spielte der Freundeskreis beim nächsten Entwicklungsschnitt ebenfalls eine wichtige Rolle. Anfänglich habe der Cannabiskonsum nur eine Nebenrolle bei den gemeinsamen Aktivitäten gespielt, doch nach und nach wurde das Kiffen zum Mittelpunkt des Beisammenseins.
„Du fängst an, dich mehr und mehr mit den Leuten zu treffen und du kiffst jedes Mal, wenn du sie siehst. Es ist, als wenn du sie siehst, um zu kiffen. Wenn du nicht kiffst, triffst du sie nicht“, sagte Line, 23 Jahre.“ In dieser Phase wird das Kiffen zu einem verbindenden Element, schreiben Järvinen und Ravn. Diejenigen, die aufhören zu kiffen, treffen sich immer seltener mit der Gruppe. Wer weiter oder sogar mehr kifft, bleibt in der Gruppe.
Während sich der Anlass der gemeinsamen Treffen langsam wandelt, wird auch das Kiffen mehr und mehr zu einer individuellen Angelegenheit. Die Befragten berichteten davon, dass sie sich zum Kiffen weiterhin trafen, sie aber eher nebeneinander konsumierten, als dass sie noch miteinander kifften.
David, 23 Jahre alt, erklärt: „Man rauchte nicht mehr zusammen, wir teilten uns nicht mehr einen Joint, wie wir es früher taten […] Wir saßen zusammen und guckten den gleichen Film, vielleicht stritten wir uns noch darüber, welchen Film oder welchen Sender wir schauen wollten, das war mehr oder weniger der soziale Aspekt unserer Treffen.“
In den Anfängen teilten die Befragten ihr Cannabis für gewöhnlich mit Freunden. Doch mit zunehmendem Konsum schaute jeder nur noch auf seinen eigenen Bedarf. Wenn beispielsweise der persönliche Vorrat an Cannabis knapp wurde, dann verzichteten manche darauf, sich mit Freunden zu treffen, weil sie für den Abend sonst nicht genug für sich selbst zum Kiffen hatten. Sie blieben dann lieber alleine.
Dabei verschob sich auch die Motivation des Kiffens. Während anfangs noch der soziale Aspekt entscheidend war und Cannabis den Spaßfaktor erhöhte, diente das Kiffen mehr und mehr dazu, sich zu betäuben und abzuschalten. Der Konsum wurde zunehmend funktionalisiert. Das bedeutet, das Kiffen hatte immer mehr die Funktion, mit unangenehmen Gefühlen wie Angst, Einschlafschwierigkeiten oder anderen Problemen umzugehen. Manche der Befragten sagten, dass sie Cannabis schlicht dazu brauchten, um sich normal zu fühlen.
Während also der soziale Aspekt und der Fun-Faktor beim Einstieg an das Kiffen wichtige Elemente zu sein scheinen, ist der problematische Konsum durch das Gegenteil gekennzeichnet: Die Abkehr vom Gemeinsamen und die Hinwendung zum Konsum als eine Notwendigkeit, um im Alltag klarzukommen.
Was die Interviews von Järvinen und Ravn gezeigt haben, ist die Tatsache, dass Cannabiskonsum nicht per se als problematisch bezeichnet werden muss, der Konsum jedoch auch in Gemeinschaft mit anderen eskalieren kann. Manche Betroffenen ziehen sich dann zurück, bis hin zur Isolation. Der 23-jährige David beispielsweise lebte zwar in einer Wohngemeinschaft, zog sich aber immer mehr in sein Zimmer zurück, um dort alleine zu kiffen. Er ging sogar so weit, dass er seine Tür mit Silikon abgedichtet hat, weil sich die Mitbewohner zunehmend durch den Cannabisrauch gestört fühlten. Als „total verrückt“, beschrieb er seine Situation im Nachhinein, „ich habe mich selbst isoliert und ich merkte nicht einmal, was ich da tat.“
Zweifelsohne gibt es viele Cannabiskonsumierende, die nur gelegentlich kiffen und bei denen der Rausch meist eine mit Freunden geteilte Erfahrung ist. In der dänischen Studie konnte jedoch gezeigt werden, wie der soziale Aspekt des Kiffens bei manchen jungen Menschen mehr und mehr in den Hintergrund rückt.
Anders als Howard Becker es in den 1950er Jahren formuliert hat, gibt es sehr wohl Menschen, denen die Kontrolle über den Konsum entgleitet. Kennzeichnend für den häufigen Konsum sind vor allem die veränderten Motive. Während anfangs noch der Spaß im Vordergrund steht, wird die Wirkung zunehmend dazu genutzt, um unangenehme Gefühle zu betäuben oder einfach, um scheinbar normal zu funktionieren. Järvinen und Ravn weisen deshalb darauf hin, wie wichtig es ist, gerade solche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und dagegen zu steuern.
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