Topthema

Wenn das Kiffen zur "Krücke" wird

Mai 2010

Mann zündet sich mit einem Feuerzeug einen Joint an.

Bild: Digitalstock

Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Deutschland. Beinahe jeder zweite junge Erwachsene hat schon einmal gekifft. Für die meisten bleibt es beim Gelegenheitskonsum. Doch ein Teil der Konsumentinnen und Konsumenten kifft mehr als ihnen gut tut. Oft handelt es sich um eine schleichende Entwicklung, die sich über Jahre hinzieht. Der Konsum wird immer mehr „funktionalisiert“, will heißen, er findet nicht mehr nur in der geselligen Runde unter Freunden statt, sondern verlagert sich zunehmend in die eigenen vier Wände, weil es so viele Gründe gibt, „einen durchzuziehen“. Doch wie kommt es zu solchen Entwicklungen? Gibt es Personen, die besonders gefährdet sind? Und kann man derartige Tendenzen schon frühzeitig erkennen? Im aktuellen topthema werden wir diesen Fragen nachgehen. Die Psychotherapeutin Birgit Spohr hat uns dazu im Interview ausführlich Antworten gegeben.

Drogenabhängigkeit - dieses „schlimme“ Wort ruft allerlei Assoziationen hervor, die bei den meisten Menschen mit eher negativen Begriffen wie „Verelendung“ oder „Junkie“ in Verbindung gebracht werden. „Harte“ Drogen wie Heroin oder Crack passen dazu. Cannabis hingegen bringen wohl die Wenigsten spontan mit dem Thema Abhängigkeit in Zusammenhang. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auch der Konsum von Cannabis eine Abhängigkeit nach sich ziehen kann, die manchmal verheerende Konsequenzen für die Betroffenen mit sich bringt. Zwar gehört der körperliche Verfall, der bei Opiatabhängigen häufig zu beobachten ist, nicht zu den typischen Erscheinungen einer Cannabisabhängigkeit, oft erleben die Betroffenen aber ernsthafte psychische und soziale Probleme, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft.

Vom Missbrauch zur Abhängigkeit

In einer repräsentative Studie in München und dem Münchner Umland, angeleitet von Professor Hans-Ulrich Wittchen vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie, stellte sich heraus, dass immerhin 17 Prozent der befragten 14- bis 24-Jährigen Probleme oder sogar eine Abhängigkeit in Zusammenhang mit ihrem Cannabiskonsum entwickelt haben. Am häufigsten genannt waren soziale Probleme, beispielsweise mit den Eltern oder den Freundinnen und Freunden. Aber auch psychische Probleme spielen eine wichtige Rolle. Depressionen und Ängste sind oft Begleiterscheinungen oder sogar die treibende Kraft für den Konsum. Bekannt ist, dass Personen, die unter sozialer Ängstlichkeit leiden, häufig Cannabis dazu benutzen, um sich zu entspannen. Das Fatale daran ist, dass sie durch die „Eigenbehandlung“ mit Cannabis in einen Kreislauf geraten. Denn der Konsum selbst fördert auch Angstsymptome, die wiederum zum Anlass genommen werden, weiter zu konsumieren. Langfristig betrachtet kann das Kiffen bei vorhandenen Angststörungen somit zu einer Verschlimmerung der Symptomatik führen. Das Gleiche gilt auch für Depressionen. Zunächst mag Cannabis entspannend und stimmungsaufhellend wirken. Dauerhafter Cannabiskonsum kann aber wiederum Depressionen fördern.

Psychotherapeutin Birgit Spohr

Psychotherapeutin Birgit Spohr erläutert im drugcom-Interview, wie sich eine Cannabisabhängigkeit entwickelt. [zum Interview]

Doch wie kommt es, dass sich aus dem zunächst geselligen Kiffen unter Freunden ein problematischer Konsum entwickelt? Dazu gibt es keine einfache Antwort. Offenkundig ist aber, dass der Konsum meist an Häufigkeit zunimmt. Das Konsummuster verlagert sich zudem oft hin zu „härteren“ Varianten. Statt des Joints werden beispielsweise Rauchgeräte wie die Bong verwendet, die eine intensivere Wirkung verspricht. Doch auch härtere Konsummuster allein machen noch nicht abhängig. Wie uns die Psychotherapeutin Birgit Spohr im drugcom-Interview erläutert, sind es vor allem die Funktionen des Kiffens, die der Abhängigkeit den Weg bereiten. Wenn es nicht mehr nur um das Spaßhaben geht, sondern darum, schwierige Situationen erträglicher zu machen, sei es weil es Stress in der Familie oder in der Ausbildung gibt, sei es weil man alleine zuhause ist und nicht recht etwas mit sich anzufangen weiß. Wenn das Kiffen unangenehme Situationen angenehmer gestaltet, sei die Gefahr groß, dass das Kiffen zur „Krücke“ wird, erläutert Birgit Spohr im drugcom-Interview. Das heißt, das Kiffen mutiert zur vermeintlichen Alltagshilfe, bis man nicht mehr ohne gehen kann.

Entzugserscheinungen

Viele, die schließlich - oft nach langjährigem Konsum - versuchen, den Konsum eigenständig zu reduzieren, stellen dann fest, dass die ersten Versuche nicht optimal verlaufen. Sie erleben Entzugserscheinungen und den intensiven Wunsch, wieder zu kiffen. Eine Forschungsgruppe um Alan Budney hat 2004 einen Übersichtsartikel zu Entzugserscheinungen bei Cannabiskonsum veröffentlicht. Die Autoren stellten fest, dass etwa zwei Drittel aller Cannabisabhängigen, die eine Behandlung aufsuchen, vier oder mehr Entzugssymptome von zumindest mittlerer Intensität aufweisen. Der Schweregrad der Entzugssymptome sei dabei in etwa vergleichbar mit dem Entzug bei einer Nikotinabhängigkeit. Allerdings können Entzugssymptome individuell sehr unterschiedlich erlebt werden.

Zu wenige nehmen Hilfe in Anspruch

Trotz der offenkundig weiten Verbreitung des problematischen Konsums nimmt jedoch nur eine Minderheit professionelle Hilfe in Anspruch. In der oben zitierten Studie aus der Region München gab nur ein Drittel der Personen, die einen problematischen Konsum aufweisen, an, jemals fachliche Unterstützung wegen ihres Cannabiskonsums aufgesucht zu haben. Meist handelte es sich um psychotherapeutische Hilfe, was dafür spricht, dass auch andere psychische Probleme außer dem Konsum eine Rolle spielen. Nur eine Minderheit hat sich direkt an eine Drogenberatungsstelle gewendet.

Dass professionelle Beratung nur in den wenigsten Fällen genutzt wird, hat vermutlich verschiedene Gründe. Sei es aus Scham, sowohl sich selbst als einer zunächst fremden Person gegenüber die eigenen Probleme einzugestehen oder sei es, dass die persönlichen Schwierigkeiten als zu unbedeutend betrachtet werden, als dass hierfür ein „Seelenklempner“ aufzusuchen wäre. Tatsache aber ist, je eher jemand sich mit seinem Konsum offen auseinandersetzt und hierfür fachkundige Hilfe in Anspruch nimmt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihren Konsum erfolgreich reduzieren oder ganz einstellen wird.

Was bei der Beratung passiert

Die Erfahrungen aus der Beratung im Rahmen von „drugcom.de“ zeigen uns auch, das viele der Nutzerinnen und Nutzer oft nicht wissen, was Beratung eigentlich ist und wie diese abläuft. Unter der Rubrik „häufig gestellte fragen“ werden daher die wichtigsten Themen zu Beratung und Therapie behandelt. Vereinfacht gesagt geht es in der Beratung darum, über die Sorgen oder Ängste zu sprechen, um gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu finden oder weiterführende Hilfsmöglichkeiten zu erörtern.

Mittlerweile gibt es ein vielfältiges Beratungsangebot für Cannabiskonsumierende in Deutschland. So haben viele Drogenberatungsstellen sich auf den Trend, dass ihre Klientel immer häufiger überwiegend mit Cannabisproblemen zu ihnen kommt, eingestellt und bieten spezielle Beratungsprogramme für Cannabiskonsumentinnen und -konsumenten an. Beispiele hierfür sind die Beratungsprogramme „Realize it“ oder „CANDIS“. Gemeinsam haben diese Programme, dass es in mehreren Gesprächsterminen darum geht, die persönliche Situation zu analysieren, um Handlungsalternativen und damit konkrete Wege aus der Abhängigkeit zu entwickeln.

Beratung online

Wer es lieber online mag, für den bietet das Internet auch einige Beratungsmöglichkeiten. Viele Drogenberatungsstellen haben zusätzlich die Möglichkeit geschaffen, per Chat oder E-Mail kontaktiert zu werden. Eine ausschließlich online durchgeführte und auf die Belange von Cannabiskonsumierenden hin spezialisierte Beratung bietet „drugcom.de“ mit dem Programm „quit the shit“. Hier werden Ratsuchende individuell und durch erfahrene Beraterinnen und Berater darin unterstützt, ihren Cannabiskonsum zu reduzieren oder ganz einzustellen. Erst kürzlich konnte in einer wissenschaftlichen Studie belegt werden, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von „quit the shit“ ihren Cannabiskonsum signifikant im Vergleich zu einer Kontrollgruppe senken. Gleichzeitig verbessert sich ihr psychisches Befinden. Angst und Depressivität nehmen ab und die Lebenszufriedenheit nimmt zu.

Wer sich noch nicht sicher ist, wie es um den eigenen Cannabiskonsum steht, der kann bei „drugcom.de“ auch einen Selbsttest durchführen, der unmittelbar die Risiken des Konsumverhaltens analysiert. Alle Angebote auf „drugcom.de“ können übrigens anonym und kostenlos genutzt werden.

 


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