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Wie ADHS mit Drogenkonsum zusammenhängt

August 2025

Ein beträchtlicher Anteil von Menschen mit Suchtproblemen leidet unter ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Warum ist das so?

Bild: BeritK / iStock.com

„Ich möchte immer 1000 Dinge gleichzeitig machen, egal ob beruflich oder privat.“ Sven, 36 Jahre alt, hat ADHS und berichtet auf dem Portal gesundheitsinformation.de davon. Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung wurde mit 17 Jahren bei ihm diagnostiziert. Er habe gemerkt, dass irgendwas nicht mit ihm stimmt. Seine Kindheit sei zwar schön gewesen, in der Schule habe er es aber nicht leicht gehabt. „Oft war ich völlig überdreht, impulsiv und mir fiel es sehr schwer, mich zu konzentrieren.“

Als er hin und wieder depressive Phasen hatte, ging er als Jugendlicher selbständig zu seinem Kinderarzt. Der hat ADHS bei ihm festgestellt und ihm Medikamente verschrieben. Anfänglich hätten diese zwar Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen oder Übelkeit verursacht, mittlerweile komme er aber zurecht. So würden ihm die Medikamente bei der Arbeit helfen, die Dinge ruhiger, strukturierter und vor allem nacheinander abzuarbeiten. Ohne Medikamente versuche er alles gleichzeitig zu erledigen, schaffe es aber nicht, die Dinge ordentlich abzuschließen.

Heute hat Sven eine eigene Firma. Für ihn ist ADHS keine Erkrankung, sondern eine persönliche Besonderheit. Er könne zwar einiges nicht, aber dafür vieles, was andere nicht können.

Symptome der Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung

Vermutlich hatte Sven schon in der Kindheit ADHS. Etwa 8 Prozent aller Kinder und 6 Prozent aller Jugendlichen leiden unter den Symptomen der ADHS. Charakteristisch sind drei Hauptsymptome: Da ist der übersteigerte Bewegungsdrang, der als Hyperaktivität bezeichnet wird. Unaufmerksamkeit oder gestörte Konzentrationsfähigkeit zählt ebenso zu den Symptomen wie Impulsivität, also die Neigung, spontan und unüberlegt zu handeln.

Bis zu einem gewissen Grad sind diese Eigenschaften für Kinder durchaus normal. Bei Kindern mit ADHS nehmen die Symptome aber ein Ausmaß an, das sich vom Verhalten anderer Kinder deutlich unterscheidet. Manche Kinder sind vor allem impulsiv und hyperaktiv. Bei anderen Kindern überwiegt die Unaufmerksamkeit. Sie werden eher als Tagträumer wahrgenommen. Kommt Hyperaktivität nicht vor, wird vom Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom gesprochen oder kurz ADS.

Die Erstellung einer ADHS-Diagnose ist nicht einfach und kann nur von erfahrenen Fachleuten aus der Medizin oder Psychologie gestellt werden. Wird ADHS jedoch nicht entdeckt und bleibt unbehandelt, kann das ernsthafte Folgen für das Kind und den späteren Erwachsenen haben. Etwa die Hälfte der Betroffenen, die als Kind ADHS haben, leiden auch im Erwachsenenalter unter ADHS-Symptomen. Erwachsene mit ADHS sind oft gefährdet für psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder die bipolare Störung. Bleibt ADHS unbehandelt neigen Erwachsene auch vergleichsweise häufig zum Konsum von Alkohol und anderen Drogen, was eine Sucht nach sich ziehen kann.

Jede fünfte Person mit einer Substanzkonsumstörung hat ADHS

Studien zufolge haben Menschen mit ADHS eine 4,6-fach höhere Wahrscheinlichkeit für Sucht als Menschen ohne ADHS. Etwa jede fünfte Person mit einer Substanzkonsumstörung, wie Sucht auch bezeichnet wird, leidet zusätzlich unter ADHS. Unter den Menschen mit einer Alkoholkonsumstörung hat sogar jeder vierte ADHS. Auch von verhaltensbezogenen Süchten wie Glücksspielsucht oder einer Internetsucht sind Menschen mit ADHS stärker betroffen. Wieso ist das so?

In der Fachwelt wird diskutiert, ob die Überschneidung der Symptome bei ADHS und Sucht eine Rolle spielen könnte. So ist Impulsivität nicht nur ein für ADHS kennzeichnendes Symptom, auch bei Suchterkrankungen ist erhöhte Impulsivität ein treibender Faktor. Einer mit Impulsivität verwandten Eigenschaft könnte dabei eine vermittelnde Rolle zukommen: die Suche nach neuen aufregenden Erfahrungen, auch bekannt als Sensation Seeking. Jugendliche mit ADHS haben demnach ein stärkeres Interesse an neuen Erfahrungen als Jugendliche ohne ADHS. Drogenkonsum kann eine solche aufregende Erfahrung sein.

Normalsein als Grund für Substanzkonsum bei ADHS

Aus der Perspektive von Erwachsenen, die unter ADHS leiden, scheinen jedoch ganz andere Gründe eine Rolle zu spielen. Das legen die Ergebnisse einer Interview-Studie nahe, an der acht Frauen und sechs Männer im Alter von durchschnittlich 30 Jahren beteiligt waren. Alle befanden sich in einer ambulanten Entzugsbehandlung. Ein Grund, der von den Befragten für den Drogenkonsum genannt wurde, war der Wunsch, sich normal und akzeptiert zu fühlen.

Während viele Menschen ohne ADHS vermutlich deshalb Alkohol trinken, Cannabis oder andere Drogen konsumieren, weil sie den Rausch genießen wollen, ist der Substanzkonsum für die Befragten mit ADHS hingegen ein Weg, um sich normal zu fühlen. Die Wirkung ermögliche ihnen, den Alltag besser bewältigen zu können. So hat eine Person berichtet: „Alles funktionierte viel besser ... Ich meine, ich konnte ein Buch lesen. Ich konnte die Papiere so ausfüllen, wie ich es sollte, ich konnte mich um meine Arbeit kümmern, ich konnte alles tun.“

Die Befragten sprachen davon, dass sie das „Chaos in ihrem Kopf“ dadurch zähmen konnten und sozial verträglicher wurden. „Es war schwierig für mich, mehrere Leute gleichzeitig zu treffen ... Ich sagte die falschen Dinge, obwohl ich etwas anderes meinte. Also nahm ich eine minimale Dosis Amphetamin, um meine Arbeit zu erledigen und die Treffen mit meinen Kunden zu bewältigen.“

Generell war das Gefühl, sich zugehörig zu fühlen, ein wichtiger Aspekt. Denn der Konsum von Alkohol oder Drogen scheint einen beruhigen Effekt zu haben, der es Betroffenen mit ADHS erst ermöglicht, sich „normal“ zu verhalten und nicht mehr durch unangepasstes, impulsives Verhalten aufzufallen.

Zusätzliche Risiken durch Selbstmedikation mit Alkohol und Drogen

Die Ergebnisse der Studie zeigen auf, dass der Konsum von Substanzen für manche Menschen mit ADHS eine Art Selbstmedikation zu sein scheint. Das kann vor allem dann der Fall sein, wenn ADHS in der Kindheit oder Jugend nicht erkannt wurde.

So wurde in einer Studie bei 12 Prozent der Personen, die sich in einer Drogenentgiftungsbehandlung befanden, eine ADHS-Diagnose gestellt, die zuvor nicht bekannt war. Dabei fiel vor allem die starke Verbreitung des Konsums von Kokain und Amphetaminen auf. Die betroffenen Personen litten auch stärker als andere Drogenabhängige unter Depressionen und hatten mehr Suizidversuche in der Vergangenheit verübt.

Wichtig ist rechtzeitiges Erkennen und Behandeln von ADHS

Die Autorinnen und Autoren der Studie heben hervor, wie wichtig es sei, ADHS rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Aus ihrer Sicht ist die Behandlung mit Präparaten wie Methylphenidat angesichts des Drogenmissbrauchs zwar nicht unproblematisch, es gäbe inzwischen aber auch Medikamente wie Atomoxetin ohne stimulierende Wirkung. Zudem gibt es wirksame psychotherapeutische Verfahren.

Für Betroffene, die als Erwachsene eine ADHS-Diagnose erhalten, kann dies eine erhebliche Erleichterung sein. Die Diagnose kann ihnen eine Erklärung dafür geben, warum sie seit ihrer Kindheit das Gefühl haben, anders zu sein oder warum sie so oft Probleme in ihrem Leben erfahren haben.

In einer Studie berichten Betroffene auch von Wut und Trauer, weil ihnen mit der ADHS-Diagnose plötzlich bewusst wurde, dass sich ihr Leben auch ganz anders hätte entwickeln können, hätten sie früher davon gewusst. Letztlich überwog aber die Erleichterung und die positive Gestimmtheit, sich selbst und ihr Leben zukünftig besser im Griff zu haben. „Die Einnahme von Medikamenten hat mir, glaube ich, zum ersten Mal einen Eindruck vermittelt, wie sich der Durchschnittsmensch fühlt“, stellte ein befragte Person fest.

Betroffene und Angehörige finden mehr Informationen zu ADHS und Hilfemöglichkeiten unter anderem auf folgenden Webseiten:

Fazit

Ein auffällig hoher Anteil an Menschen mit einer Suchterkrankung leidet unter der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. ADHS und Sucht haben Überschneidungen bei den Symptomen. Insbesondere die für ADHS typische Impulsivität könnte ein Grund für die erhöhte Neigung zum Substanzkonsum sein.

Für Menschen mit ADHS kann der Konsum von Alkohol und anderen Drogen auch eine Form der Selbstmedikation sein, weil sie ihren Alltag damit besser bewältigt kriegen. Wichtig ist es daher, ADHS möglichst frühzeitig zu erkennen und angemessen zu behandeln, da Sucht meist mit einer Vielzahl weiterer negativen Folgen verbunden ist.

 

Quellen:

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