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Synthetische Cannabinoide: Von der Medizin zum Rauschmittel

Dezember 2021

Synthetische Cannabinoide wurden ursprünglich in der medizinischen Forschung entwickelt. Herausgekommen sind Substanzen, die teils um ein Vielfaches stärker wirken als natürlicher Cannabis. Der Gebrauch als Rauschmittel kann lebensgefährliche Folgen haben.

Bild: insjoy / istockphoto.com

Mit der Entschlüsselung des Cannabiswirkstoffs THC in den 1960er Jahren fing es an. Forscherinnen und Forscher entdeckten daraufhin, dass unser Körper eigene Cannabinoide produziert und er hierfür spezielle Rezeptoren bereithält, die Einfluss nehmen auf eine Vielzahl von Funktionen in unserem Körper.

Mit der Entdeckung des Endocannabinoid-Systems eröffnete sich ein gänzlich neues Feld für die pharmakologische Forschung. Neue künstliche Wirkstoffe wurden entwickelt. Damit verbunden war die Hoffnung, synthetische Cannabinoide für verschiedenste medizinische Zwecke einsetzen zu können, darunter die Behandlung von Schmerzen, Epilepsie oder Essstörungen. Ziel der Entwicklung waren Wirkstoffe mit bestimmten medizinischen Effekten, ohne dass dabei die für Cannabis typischen psychoaktiven Wirkungen ausgelöst werden.

Synthetische Cannabinoide nach Erfinder benannt

Über einen Zeitraum von 20 Jahren sind mehr als 450 Varianten dabei herausgekommen. Die teils kryptisch wirkenden Bezeichnungen synthetischer Cannabinoide verweisen auf die Anfangsbuchstaben ihrer Erfinder oder auf die Institutionen, wo sie entwickelt wurden. So stehen beispielsweise die ersten Buchstaben der Substanz „JWH-018“ für den Chemiker John W. Huffman, die Zahl 18 für die achtzehnte Substanz, die entwickelt wurde. Substanzen mit den Anfangsbuchstaben „AM“ stehen für Alexandros Makriyannis, „CP“ für Charles Pfizer oder „HU“ für die Hebräische Universität in Jerusalem.

Üblicherweise werden Studienergebnisse in wissenschaftlichen Magazinen veröffentlicht, und normalerweise interessiert sich dafür nur die Fachöffentlichkeit. Doch die Artikel zu synthetischen Cannabinoiden wurden offenbar auch von Personen gelesen, die ganz anderes als Forschung im Sinn hatten. Illegale Labore übernahmen das Wissen aus der Forschung, produzierten die beschriebenen Substanzen und vermarkteten diese als so genannte Legal Highs.

„Spice“ sorgte 2008 für Aufsehen

In diesem Zusammenhang sorgte eine Kräutermischung namens „Spice“ 2008 für Aufsehen. Zunächst rätselte nicht nur die Wissenschaft, wie scheinbar harmlose Kräuter einen cannabisartigen Rausch erzeugen können. Ein deutsches Forschungsteam um den Toxikologen Volker Auwärter hat sogar einen Selbstversuch unternommen, um herauszufinden, ob etwas dran ist an den Berichten von Konsumierenden. Und siehe da: Die beiden Testpersonen aus dem Forschungsteam hatten nach dem Rauchen von 0,3 Gramm der Marke „Spice Diamond“ gerötete Augen, einen erhöhten Pulsschlag und nahmen Stimmungs- und Wahrnehmungsveränderungen war. Sie hätten sich „moderat beeinträchtigt“ gefühlt, schrieb das Team in seiner Fachpublikation. Oder anders formuliert: als hätten sie an einem Cannabis-Joint gezogen.

Ein Labor in Frankfurt hat schließlich erstmals den Nachweis erbraucht: Spice enthielt nicht nur Kräuter, sondern auch das bereits erwähnte synthetische Cannabinoid JWH-018. In der Folge wurde mit CP-47,497 ein weiteres synthetisches Cannabinoid in einer Kräutermischung entdeckt. Beide Substanzen wurden per Eilverordnung in das Betäubungsmittelgesetz aufgenommen. Spice war fortan illegal.

Synthetische Cannabinoide mit Namen von Girl-Popbands und Raketentriebwerken

Doch Untergrundlabore fanden neue Schlupflöcher. Schon kleine Veränderungen der chemischen Struktur reichten aus, um das Betäubungsmittelgesetz zu umgehen. Illegale Hersteller warfen neue Substanzen auf den Markt, die dem Anschein nach wissenschaftliche Namen tragen. So haben die Substanzen AKB-48 oder 2NE1 nicht etwa ihren Ursprung in der Forschung. Ihre Bezeichnungen gehen zurück auf gleichnamige Girl-Popbands in Japan und Südkorea. Vermutlich sollte deren Popularität zu Vermarktungszwecken genutzt werden.

Das synthetische Cannabinoid mit dem Namen XLR-11 trägt „zufällig“ den gleichen Namen wie das erste in den USA entwickelte Raketentriebwerk, das mit Flüssigtreibstoff angetrieben wird. Die illegalen Hersteller spielen damit vermutlich auf den beabsichtigen Effekt beim Konsum der Substanz an. So ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht, denn: Synthetische Cannabinoide wirken oft um ein Vielfaches stärker als Cannabis.

Die Cannabispflanze produziert eine Mischung verschiedener Cannabinoide, darunter vor allem THC und CBD. Diese Cannabinoide lösen unterschiedliche Effekte am Cannabinoidrezeptor aus. Während der Hauptwirkstoff THC einen aktivierenden Effekt hat, scheint CBD eine eher gegenteilige Wirkung zu haben. CBD kann die Wirkung von THC abschwächen, indem es die Rezeptoren blockiert, ohne diese zu aktivieren.

Synthetische Cannabinoide bis zu 100-mal stärker als THC

Synthetische Cannabinoide, die zu Rauschzwecken vermarktet werden, enthalten aber kein CBD. Studien legen nahe, dass die künstlichen Verbindungen zudem eine besondere hohe Bindungskraft an den Rezeptoren entfalten können. Der Effekt ist: Der Rausch setzt in der Regel schneller ein und ist intensiver als der nach einem herkömmlichen Cannabis-Joint. Meist ist die Wirkung kürzer als acht Stunden, in manchen Fällen kann die Wirkung aber auch länger als 24 Stunden anhalten.

Hinzu kommt, dass völlig unklar ist, welche synthetischen Cannabinoide in den illegal hergestellten Produkten enthalten sind. Die Wirksamkeit von synthetischen Cannabinoiden kann sehr unterschiedlich sein. Manche der künstlichen Substanzen wirken wie THC, andere sind bis zu 100-mal stärker.

Zudem kann die Wirkstoffkonzentration innerhalb einer Packung unterschiedlich verteilt sein. Konsumierende können sich somit nicht darauf verlassen, dass ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Menge eine gleichbleibende Wirkung erzielt. Das gezielte Dosieren ist unmöglich, was entsprechend schwer kalkulierbare Risiken nach sich zieht.

Fälle von Überdosis mit synthetischen Cannabinoiden

Inzwischen gibt es zahlreiche Fallberichte, in denen Konsumierende vermutlich unter dem Einfluss einer Überdosis synthetischer Cannabinoide extreme Verhaltensweisen gezeigt haben. Einige der Betroffenen sind an den Folgen verstorben. In einem Fall ist ein 23-Jähriger vermutlich im psychotischen Zustand völlig ausgerastet. Er verwüstete sein Zimmer, zerschmetterte eine Fensterscheibe und fügte sich selbst eine stark blutende Schnittverletzung am Hals zu. Als der Notarzt eintraf, war er bereits tot. In seinem Blut wurden außer dem synthetischen Cannabinoid AM-2201 keine weiteren psychoaktiven Substanzen gefunden. Psychiatrische Vorerkrankung hatte er nicht.

Es gab auch Berichte von Massenvergiftungen. In einem besonders bizarren Fall torkelten 33 Männer wie Zombies durch die Straßen von New York. Sie bewegten sich wie in Trance, mit starrem Blick. Hin und wieder stöhnte einer von ihnen. Es stellte sich heraus, dass sie das synthetische Cannabinoid AMB-FUBINACA konsumiert hatten. Die Substanz sei etwa 85-mal stärker als der Cannabiswirkstoff THC.

Ein deutsches Forschungsteam hat Fälle ausgewertet, die zwischen 2008 und 2011 der Giftnotzentrale Freiburg gemeldet wurden. In diesem Zeitraum mussten 48 Personen notfallmedizinisch behandelt werden, nach dem sie synthetische Cannabinoide konsumiert hatten. Viele der akuten Beschwerden seien auch von THC bekannt. Ein Teil der dokumentierten Folgen wurden jedoch als eher untypisch für die Wirkung von Cannabis eingestuft. Dazu zählte das Forschungsteam aggressives Verhalten, Krampfanfälle, Bluthochdruck, starke Übelkeit und Kaliummangel (Hypokaliämie). Insbesondere letzteres wurde in einem Falle als besonders schwerwiegender Notfall gewertet. Kalium ist wichtig für viele Körperfunktionen. Bei Kaliummangel können Müdigkeit und Muskelschwäche bis hin zu Herzrhythmusstörungen auftreten. Berichte aus den USA zeigen ebenfalls auf, dass der Konsum synthetischer Cannabinoide lebensgefährlich sein kann.

Vergiftungen mit Rattengift

Auch hat es Fälle gegeben, in denen synthetische Cannabinoide mit einer hochgiftigen Substanz verunreinigt waren. 2018 berichtete die US-amerikanische Gesundheitsbehörde CDC in einer Publikation von Fällen schwerer Blutungen. Die meisten der Betroffenen hatten Blut im Urin. Manche bluteten aus den Ohren oder der Nase. Andere hatten Blut im Stuhl, im Erbrochenen oder sie husteten Blut. Einige Frauen litten unter extremen Monatsblutungen. Insgesamt mehr als 150 Patientinnen und Patienten wurden allein zwischen März und April 2018 wegen schwerer Blutungen in Notaufnahmen im US-Bundesstaat Illinois behandelt.

Blutanalysen belegten, dass die Personen sich mit einer Substanz namens Brodifacoum vergiftet hatten, das eigentlich zur Rattenbekämpfung eingesetzt wird. Es verursacht eine langanhaltende Störung der Blutgerinnung. Keine der betroffenen Personen nahm Medikamente ein, die sich auf die Blutgerinnung auswirken. Allerdings hatten alle ein paar Tage vor dem Auftreten der Symptome Produkte konsumiert, die synthetische Cannabinoide enthielten.

Verbot von Stoffgruppen

Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) berichtet, dass die Zahl an Beschlagnahmungen von synthetischen Cannabinoiden seit 2015 abgenommen habe. Vermutet wird, dass neue Gesetzgebungen, die den Verkauf als Legal High beschränken, ihre Wirkung zeigen.

So ist in Deutschland 2016 das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG) in Kraft getreten. Anders als das Betäubungsmittelgesetz verbietet das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz keine Einzelsubstanzen, sondern ganze Stoffgruppen. Durch die Regulierung von Stoffgruppen ist es nicht mehr möglich, Verbote durch kleine chemische Veränderungen zu umgehen.

„Fake Hanf“ statt Legal High

Allerdings ist in der letzten Zeit ein neues Phänomen aufgetreten. Es gibt Fälle, in denen wirkstoffarme Cannabissorten mit synthetischen Cannabinoiden behandelt wurden, um „normales“ Gras vorzutäuschen. Dabei handelt es sich vermutlich um Industriehanf oder CBD-Hanf. Die Konzentration des Wirkstoffs THC ist in diesen Hanfsorten eigentlich zu gering, um einen Rausch zu erzeugen. Durch das Aufsprühen von synthetischen Cannabinoiden kann der so behandelte Cannabis dennoch berauschend sein.

Tückisch ist, dass Konsumierende nicht erkennen können, ob es sich um „Fake-Hanf“ oder „echten“ THC-haltigen Cannabis handelt. Wenn der Rausch unerwartet heftig ist, könnten synthetische Cannabinoide verantwortlich sein.

Fazit

In der pharmakologischen Forschung wurden systematisch neue synthetische Cannabinoide entwickelt. Damit verbunden war die Hoffnung, neue Wirkstoffe zur Behandlung verschiedener Erkrankungen zu finden. Die Erkenntnisse, veröffentlicht in Fachmagazinen, wurden jedoch auch von illegalen Laboren aufgegriffen. Als Legal Highs wurden die synthetischen Cannabinoide vermarktet.

Synthetische Cannabinoide können allerdings um ein Vielfaches stärker wirken als Marihuana oder Haschisch. Den verkauften Produkten, meist sind es Kräutermischungen, ist nicht anzusehen, welche synthetischen Wirkstoffe in welcher Konzentration enthalten sind. Mitunter können lebensgefährliche Überdosierungen die Folge sein, wie zahlreiche Fallbeispiele belegen.

Verbote von einzelnen Substanzen wurden meist durch kleine chemische Veränderungen von den illegalen Herstellern umgangen. Inzwischen verbietet der Gesetzgeber aber ganze Stoffgruppen, so dass auch der Umgang mit synthetischen Cannabinoiden, die noch nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt sind, verboten ist.

 

Quellen:

 


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